von
Dr. Erich Koch,
Altshausen
Da ich ein Fan
des oberschwäbischen Kirchen-Barocks bin, mich seit rund 30
Jahren damit befasse und nahezu alle 100 Barock-Kirchen in
Oberschwaben und drum herum kenne, ist es naheliegend, aus
eigener Feder über das „Himmelreich des Barocks“ zu schreiben.
Ich suchte mir dazu die berühmte Kloster- und Wallfahrskirche
St. Maria von Birnau/Bodensee aus.
Mit meinem Aufsatz habe ich nicht die Intention, eine
kunsthistorische Abhandlung zur Barock-Kirche Birnau zu
schreiben. Ich möchte auch keine große Fülle an Daten und Fakten
über die dortige Kirche vermitteln. Das kann man alles sehr
genau in verschiedenen, exzellent gestalteten Kirchenführern
nachlesen.
Ich möchte in meinem Aufsatz Informationen weitergeben, welche
so nicht in einem Kirchenführer oder kunsthistorischen Lehrbuch
nachzulesen sind.
Wissen Sie, dass der Ausdruck „Barock“ rund 150 Jahre lang ein
Schimpfwort war?
Hätte einer vor gut 200 Jahren das Wort „Barock“ im positiven
Sinne in den Mund genommen, er wäre - cum grano salis - umgehend
um einen Kopf kürzer gemacht worden. Er hätte nicht einmal die
Wahl gehabt zwischen manueller und maschineller Kürzung, also
zwischen Handarbeit durch den Henker oder durch die Maschine,
der Guillotine, erfunden von dem französischen Arzt Guillot.
Mehr als 15 000 Menschen, welche das barocke Leben lebten und
genossen, wurden innerhalb weniger Tage um einen Kopf kürzer
gemacht. Alle zwei Minuten rollte ein Kopf in Paris.
Dies ist der Grund, warum es weltweit so gut wie kein einziges
Barock-Bauwerk gibt, welches nach dem 14. Juli 1789 gebaut
worden ist, dem Tag der französischen Revolution.
Blicken wir zurück in das 17. und 18. Jahrhundert.
Frankreich wird zunehmend Großmacht und zum Vorbild des
absoluten Staates. Leitbild dieses Herrschaftssystems ist Ludwig
XIV. (1661 – 1715), der Sonnenkönig, der typische Vertreter des
Gottesgnadentums. Deshalb muss der Wille des Herrschers absolute
Geltung haben.
So wird der Stil dieses absoluten
Zeitalters, etwa zwischen 1600 bis 1780, im Nachhinein als
Barock bezeichnet. Ich wiederhole, erst im Nachhinein wurde
diese Epoche als Barock bezeichnet.
Das Wort Barock leitet sich von der portugiesischen Sprache her,
„barocco“, und besagt: seltsam, unregelmäßig, absonderlich, im
eigentlichen Sinne schiefrund, wie man es von Perlen oder
Edelsteinen sagt.
Im Gegensatz zur Renaissance, der nationalen Wiederentdeckung
der römischen und griechischen Antike durch die Italiener, ist
der Barockstil sicherlich von einer eigenartigen
Unregelmäßigkeit.
Der Barockstil muss jedem Auge, das klare und abgemessene
Körper- und Raumformen zu sehen gewohnt ist, als verwirrend,
unklar, ja schwulstig vorkommen. Ganz im Gegensatz zur römischen
Architektur und dem antiken Kunstverständnis.
Die Romanen, also die Italiener, hatten stets eine latente
Abneigung gegen alles, was nördlich der Alpen gebaut wurde. So
wurde bereits die Gotik verdammt und die Barockkunst lächerlich
gemacht. Wörtlich schreiben italienische Architekten und
Kunstprofessoren:
„Verflucht sei diese Pfuscherei; nur Barbaren konnten sie nach
Italien bringen.“
Und dieser Barbarenkunst wurde 1753 durch die Italiener der
Spottname „barocco“ verliehen.
Auch Goethe sah in den barocken Formen eine „entartete Kunst“,
welche schiefkrumm, überladen, gekünstelt und schwülstig wirke.
Damit war Goethe ebenfalls ein Kind seiner Zeit, verwarf die
Schweifungen und Schwünge der barocken Linie und bevorzugte
wieder die klassische Strenge.
Der Umstand, dass es die Zeit Goethes war, die den barocken
Formen absagte, hat bewirkt, dass die folgenden Generationen
sich den Blick für die Großartigkeit der Barock-Kunst verstellen
ließen.
Dies hatte auch Auswirkungen auf die Kirche in Birnau. Genau 111
Jahre lang wurde in der Kirche kein Gottesdienst mehr gefeiert.
Die „edelste Rokoko-Kirche des schwäbisch-alemannischen Raums“,
die Birnau, wurde in der Zeit von 1808 bis 1919 als Lagerraum
für landwirtschaftliche Geräte missbraucht, für Dampfpflüge und
Lokomobile. Weiterhin fanden Schafherden, Ziegen, Kühe und
Ochsen Unterschlupf in diesem Kleinod des Barocks.
Erstmals wurde der Name „Barock“ 1855 von dem Kunsthistoriker
Jaccob Burckhardt im „Cicerone“, einem Kunstführer, mit
positiver Bedeutung benutzt.
Und erst Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts, also vor gut
120 Jahren, wurde der Begriff des Barocks als wissenschaftliche
Zeitbestimmung in den Sprachgebrauch durch den Schweizer Gurlitt
und den deutschen Kunsthistoriker Wölfflin eingeführt.
Insbesondere Wölfflin erkannte als junger Professor der
Architektur und Kunstgeschichte den eigenständigen Stil dieses
absolutistischen Zeitalters, etwa von 1600 bis 1780. Sein ganzes
Leben widmete er sich dieser Stilepoche und um 1900 bis in
unsere Gegenwart hinein wurde „Barock“ zum Stilbegriff der
neueren Kunst- und Literaturgeschichte.
Das barocke Gesamtkunstwerk geht von seinem Ursprung her auf die
katholische Erneuerung nach der Kirchenspaltung zurück. In der
katholischen Kirche hatten diejenigen die Oberhand gewonnen, die
eine Erneuerung der kirchlichen Macht und eine Rückbesinnung auf
die geistlichen Aufgaben der Priester und Mönche anstrebten. In
Trient wurde 1545 ein Konzil aus Bischöfen und Theologen
zusammengerufen. Die Kardinäle und Bischöfe beschlossen
Reformen, um das Ansehen der Kirche und deren Einfluss wieder zu
heben. Sie verboten den Ablass-Handel, ordneten eine strenge
Zucht in den Klöstern an und regelten die Ausbildung der
Geistlichen.
So gerüstet ging die katholische Kirche daran, einen Teil der
Gebiete zurückzugewinnen, die an protestantische Fürsten
verloren gegangen waren. Die Gegenreformation der katholischen
Kirche, welche von Rom ausging, ist der eigentliche Ursprung des
Barock-Zeitalters. Diese Erneuerungsbewegung der katholischen
Kirche führte zu einem außergewöhnlichen künstlerischen
Aufschwung. Architektur, Skulptur und Malerei dienten, eng
miteinander verbunden, dem theatralisch gesteigerten Ausdruck
eines dramatischen Kampfes zwischen Licht und Finsternis,
himmlischem Heil und irdischer Vergänglichkeit.
Bald wurde dieser Stil aber auch von den weltlichen Fürsten
aufgegriffen, die nunmehr absolut regierten. Die prächtige
Ausstattung von Schlössern und Herrensitzen diente ihnen und den
Angehörigen der höfischen Gesellschaft dazu, ihre Macht zur
Schau zu stellen und dadurch zu festigen.
Barock waren nicht nur Architektur, Bildhauerei und Malerei,
sondern auch Musik und Literatur. Vor allem die Oper mit ihren
vielfältigen sinnlichen Effekten und der Illusionsmalerei und
-architektur ihrer Bühnenbilder wurde zur typischen barocken
Kunstform. Selbst die feierlichen, von Musik begleiteten
Gottesdienste ähnelten Opernaufführungen.
Die barocke Kunst klingt in einem Stil aus, der mit Rokoko
bezeichnet wird. Rokoko kommt vom französischen Wort „Rocaille“
und bedeutet „Muschelwerk“. Diese Namensgebung hängt mit der
allgemeinen Anwendung der Muschel als Ornament in jener Zeit
zusammen. Barock und Rokoko überschneiden sich stellenweise so
stark, dass ich in dieser kurzen Abhandlung nicht näher auf den
Rokokostil eingehen möchte.
Ja, ich könnte noch lange über „Barock“ schreiben, aber jetzt
möchte ich zum Thema meines Aufsatzes kommen, der
Wallfahrtskirche St. Maria zu Birnau.
|
Abt Stephan II Enroth beauftragte 1745 den
Konstanzer Baumeister Peter Thumb, „in aller Stille“, also
klamm-heimlich, ein Bauprojekt für eine Marien-Wallfahrtskirche
auszuarbeiten. Der aus Vorarlberg stammende Architekt begann
seine reifste Bauschöpfung zu planen.
Für den Baumeister Peter Thumb war dies eine große Ehre. Er
legte einen prächtigen Entwurf vor mit Kirchen-Kuppel und einer
großen Freitreppe am Hang hinunter bis zum See-Ufer.
Diese Pläne wurden jedoch vom Bauherrn, dem Abt. Stephan II
rigoros abgelehnt. „Zu weitschichtig und viel zu teuer“, war die
Antwort des Abtes.
Und so musste der Architekt nach einer schlichten und
kostengünstigen Lösung suchen. Eine Barockkirche für eine
ländliche Region durfte damals nicht mehr als 9 000 Florene (=
Gulden) kosten.
1 Gulden kann mit ungefähr 100 Euro verglichen werden.
Genial wie Peter Thumb als Baumeister war, kam er auf die Idee,
eine Saalkirche zu bauen. Eine klare Abkehr vom bisher üblichen
Vorarlberger Bauschema.
Eine Saalkirche besteht aus drei schmaler werdenden Räumen, so,
als wenn man von einem Raum in den anderen geht. Und so ist die
Birnau aufgebaut:
Längshaus, Chor und Apsis.
Weiterhin sollte dort zugleich
ein Priester-Haus entstehen, ein sog. Prioratsgebäude. Der Prior
ist der Stellvertreter des Abtes.
Thumb löste diese Aufgabe sehr elegant, indem er das
Priesterhaus mit dem Mittelturm der Kirche vorgeschildet hat.
Dadurch wirkt die Kirche doppelt so breit als sie eigentlich
ist. |
Der Architekt Peter Thumb stammte aus Vorarlberg, genauer gesagt
aus Bezau, im Bregenzer Wald gelegen. Sein Schwiegervater, Franz
Beer, gründete Ende des 17. Jahrhunderts die berühmte
Vorarlberger Baumeister-Schule, aus welcher 9 namhafte
Barock-Baumeister hervorgingen, welche alle miteinander verwandt
oder verschwägert waren (Beer, Thumb, Mossbrugger).
Peter Thumb hatte viele gute Eigenschaften. Er besaß ein
ausgeprägtes Pflichtbewusstsein, engagierte sich sehr
gewissenhaft um die Aufträge und sein baumeisterliches Können
war im gesamten süddeutschen Raum bekannt.
Er war ein wohlhabender Mann, wurde in den großen Rat von
Konstanz berufen und war Mitglied des Stadtgerichtes.
Peter Thumb war ein Herr von imposanter Erscheinung. Er war
immer bestens gekleidet und hatte ein auffallend höfliches
Benehmen. Und er trug, was unter den Baumeistern nicht
alltäglich war, stets eine Perücke.
Der Baumeister war der Älteste von den drei großen Meistern, 65
Jahre alt, der Bildhauer und Stuckateur Josef Anton Feuchtmayer
war 15 Jahre jünger, also 50, und der Jüngste unter den Dreien
war Gottfried Bernhard Göz, der Maler, mit 40 Jahren. |
Der Maler: Gottfried Bernhard Göz
Göz und Feuchtmayer, der eine 40 und der andere 50 Jahre alt,
hatten zuvor öfters bei anderen Kirchenbauten
zusammengearbeitet. Der Meister Göz malte die Deckengemälde in
Birnau in großer Höhe zusammen mit vier Gesellen und seinem
11jährigen Sohn.
Göz wurde in Mähren geboren, im heutigen Tschechien, ging in
Brünn in die Lehre und hatte das Bürgerrecht in Augsburg
erworben. Er wohnte dort in eher ärmlichen Verhältnissen, war
aber ein begehrter Maler.
Göz ist ein gebildeter Mann, er besuchte einst das Gymnasium,
was vor fast 300 Jahren als eine hohe Auszeichnung galt, und er
konnte Latein in Wort und Schrift zum Teil besser als seine
Arbeitgeber, die Kloster-Äbte.
Göz war ein Verehrer der Kunst von Feuchtmayer. Die beiden
diskutierten oft über die perspektivischen Darstellungen von
menschlichen Körpern oder architektonischen Elementen mit Hilfe
von Verkürzungen und geometrischen Konstruktionen.
Die Stunden, in denen Göz und Feuchtmayer zusammensaßen, waren
stets feucht-fröhlich. Denn der Malermeister trank mit Vorliebe
guten Bodensee-Wein, oft ein Schlückchen zuviel. Gegenüber
Feuchtmayer, aber auch gegenüber dem Abt äußerte er sich mit den
Worten:
„Meine Kunstgeister werden mit einem guten Glas Seewein umso
besser bei der Arbeit erfrischt.“
Göz ließ sich daher auch einen Teil seines Lohnes in gutem Wein
bezahlen. Abt Anselm sah die Trinkgewohnheiten des Malers und
seiner Gesellen mit Argwohn. Es stand ihnen laut Vertrag täglich
nur ein Maß Wein zu. Die Malerwerkstatt erhöhte jedoch den
Konsum fast regelmäßig auf das Vierfache. Zum offenen Streit
zwischen dem Abt und Göz kam es, als der Maler Anfang des Jahres
1750 wieder einmal zu tief ins Glas geschaut hatte, die Leiter
herunter fiel und sich dabei sein rechtes Bein brach. Die
folgenden 5 Wochen kam Göz nicht auf das Gerüst. Er konnte nicht
reiten und benötigte eine Kutsche mit zwei Pferden um sich
fortzubewegen. Seine Frau reiste extra aus Augsburg an, um ihn
zu pflegen.
Wäre der Abt Anselm nicht von den künstlerischen Fähigkeiten
seines Malers überzeugt gewesen, er hätte ihn umgehend
entlassen.
Doch die Seele von Göz sprach zu ihm selbst. Er sah den Unfall
als einen „Fingerzeig Gottes“ an und rührte von da an kein Glas
Wein mehr an.
Und von dem Tag an staunte alles, was der Meister Göz
fabrizierte. Die Farbmischungen waren voller Harmonie und die
Illusion einer Kuppel technisch perfekt auf das Deckengewölbe
der Birnau gemalt. Die Muttergottes mit ihren Getreuen war darin
lebendig geworden.
Der Abt war sich bewusst, dass er einen hervorragenden Maler für
wenig Geld engagiert hatte. Der Anblick der Malereien in der
äbtlichen Wallfahrtskirche besänftigte den Abt und ließ den
Streit mit seinem Maler in den Hintergrund treten. |
Evaluation
Auch wenn die Bezeichnung „Barock“ rund 150 Jahre lang im
herabsetzenden Sinne gebraucht wurde, ändert das nichts an der
Tatsache, dass die barocke Kunst einzigartige Leistungen
hervorgebracht und dass es ihr weder an schöpferischer Kraft
noch an Erfindungsreichtum gefehlt hat. Im Gegenteil, barocke
Kunst wurde aus dem gewaltigen Zusammenwirken aller Kräfte
geboren, welche die menschliche Seele und den menschlichen Geist
zu bewegen imstande sind. Tiefer Glaubensdrang, der mit der
Reformation und Gegenreformation wieder neu erstarkt war, und
eine nicht geringe Welt- und Daseinsfreude sind auf eine gewiss
seltsame Weise zusammengefügt.
Jenseitssehnsucht und Diesseitsdenken, Sinnlichkeit und
Geistigkeit, beide so stark und ungebändigt, dass sie gleich
schäumenden Wogen übereinanderschlagen und sich mischen. So
flutet der barocke Innenraum in die gemalte Unendlichkeit.
So gehe ich immer wieder der mir selbst gestellten Frage nach,
ob ich eine Grenze in der Birnau finden kann, wo der wirkliche
Architekturraum aufhört und wo der Freiraum beginnt.
Ich habe es bislang nicht klären können.
Es stellt sich oft die Frage, ob die Birnau ein Museum sei. Auch
hier müssen wir in der Geschichte um fast 300 Jahre zurückgehen.
Aus der Glaubensseligkeit des 18. Jahrhunderts ging ein
Pilger-Heiligtum hervor, um durch die Künste als Medien der
Frömmigkeit den Wallfahrern den Segen Gottes durch die
„liebliche Gnadenmutter“ zu erschließen. Die Birnau ist deshalb
für mich kein Museum. Wer mit Sorgen beladen kommt oder danken
will, soll die Mariengnadenstätte als einen Abglanz des
himmlischen Glücks erleben.
Maler Göz und Bildhauer Feuchtmayer verwandelten den auf die
Wallfahrtsgottesdienste zugeschnittenen Kirchenraum des
Baumeisters Peter Thumb in ein künstlerisches und religiöses
Gesamtkunstwerk.
Die Birnau darf mit Recht beanspruchen, die „edelste
Rokokokirche des schwäbisch-alemannischen Raums“ zu sein.
Je mehr Zeit Sie sich bei einer Besichtigung der Birnau nehmen,
um so mehr können Sie in dieser barocken Welt, die vor
Lebensfreude sprüht und voller abwechslungsreicher
Gestaltungsideen steckt, Neues entdecken. |